Jennie erzähl mal. Nebenwirkungen durch die medikamentöse Chemotherapie.

Vor fast zwei Jahren wurde mir ein tennisballgroßer Tumor aus dem Bauch herausgeschnitten. Ein GIST ist eine sehr seltene bösartige Krebsart, die trotz einer vollständigen Entfernung des Primärtumors innerhalb kurzer Zeit Streuherde (Metastasen) hervorrufen kann. Deswegen wird mit dem entfernten Tumorgewebe eine Risiko-Analyse vorgenommen und ein Rückfallrisiko errechnet. Wenn ein Patient ein moderates oder hohes Rückfallrisiko hat, wird eine medikamentöse Chemotherapie (meist mit dem Medikament Imatinib/Glivec) empfohlen. Dieses Medikament verhindert die Zellteilung von bösartigen Zellen und soll das Rückfallrisiko vermindern. Aktuell wird eine Einnahmedauer von 3 Jahren empfohlen (es laufen aber gerade Vergleichsstudien, ob es nicht besser wäre, wenn die Therapie-Dauer auf 5 Jahre erhöht wird). So eine Therapie ist natürlich verbunden mit Nebenwirkungen, allerdings sind diese nicht so extrem wie bei einer zytotoxischen Chemotherapie, bei der die Zellen bekämpft werden (Imatinib ist zytostatisch, das heißt es wird nur das Wachstum gehemmt, das Unkraut wird quasi nicht an der Wurzel gepackt und vernichtet, sondern es wird nur verhindert, dass es sich ausbreitet). 
Seit August 2018 nehme ich nun das Medikament und habe mit diversen Nebenwirkungen zu kämpfen. Einige sind immer da, andere treten schubartig auf. Und manchmal werde ich sogar noch mit neuen Symptomen überrascht. Letztes Jahr haben mich die Nebenwirkungen so stark eingeschränkt, dass ich überlegt habe, das Medikament abzusetzen. Aber die Worte von meinem Onkologen dazu waren: "Ohne das Medikament haben Sie nur eine 50%ige  5-Jahres-Überlebenschance." Eindeutig überzeugend. Das hat mir natürlich eine neue Sichtweise auf das Medikament gegeben und mittlerweile habe ich mich mit den Nebenwirkungen arrangiert. Sie schränken mich zumindest im Alltag nicht mehr allzu oft ein und einige Symptome konnte ich sogar abmildern, das hat mir viel Lebensqualität zurück gegeben. 

Haare/Wimpern/Augenbrauen
Ich hatte immer ziemlich volle, lockige Haare. Ich mochte meine Haare sehr gerne. Ich wusste schon vor der Therapie, dass mir die Haare nicht komplett ausfallen werden, aber dass sie sich verändern und wesentlich dünner werden würden. Ungefähr 2-3 Wochen nach Beginn der Therapie stand ich unter der Dusche, bin mit der Hand durch die nassen Haare gegangen und hatte eine dicke Strähne zwischen den Fingern. Ich war schockiert, habe so laut geweint und geschluchzt, dass mein Mann vor mir stand und dachte es wäre sonstwas passiert. In den nächsten Tagen hatte ich immer große Mengen meiner langen Haare in der Bürste, also blieb mir nur der Gang zum Frisör. Ich habe mir die Haare in Absprache mit meiner Frisörin auf Ohrlänge schneiden lassen, damit die Haare nicht so angreifbar sind und sie ein bisschen voller aussehen. Trotzdem hat sich die Struktur verändert, meine Haare sind trocken und zausig und lassen sich kaum bändigen. Okay, das ist bei Naturlocken eh immer schwierig, aber nun fast unmöglich.
Kurz danach haben sich auch meine Augenbrauen und Wimpern minimalisiert, das lässt sich aber ganz gut mit Beauty-Produkten kaschieren. Mittlerweile habe ich ein Shampoo mit Coffein, das meine Haare unterstützt, so dass sie zumindest ganz gut nachwachsen und ich ich habe es geschafft, sie zumindest auf "schulterlang" zu züchten. Trotzdem stehe ich immer noch oft vor dem Spiegel und frage mich, ob die Kopfhaut schon immer so doll sichtbar zwischen den Haaren war. Es wird natürlich oft gesagt, dass man selber sowas viel kritischer sieht, aber ich bin tatsächlich auch von Freundinnen darauf angesprochen worden. Ich versuche dann optimistisch zu denken und dankbar zu sein, dass meine Haare immerhin nicht ganz ausgefallen sind. Außerdem ist das eine der Nebenwirkungen, die mich zumindest nicht im Alltag einschränkt. 

Wassereinlagerungen, vorwiegend um die Augen
Manchmal, wenn ich morgens in den Spiegel schaue, mache ich jedem Boxer Konkurrenz. Um meine Augen lagert sich Wasser ein, so dass ich am Morgen oftmals aussehe, als hätte ich die ganze Nacht durchgeweint oder eben ein paar Fäuste ins Gesicht bekommen. Das verschlimmert sich auch gerne mal, wenn ich zum Beispiel viel Salz esse oder zu wenig trinke. Dann sind die Augen so zugeschwollen, dass ich nur noch verschwommen sehen kann und zusätzlich tränen die Augen dauerhaft. Durch die dauerhafte Einnahme von Schüssler Salz Nr. 10 kann ich die Wassereinlagerungen ein bisschen abmildern, so dass es sogar Tage gibt, an denen ich nur ganz kleine Schwellungen habe. Das Symptom zieht noch andere Symptome nach sich, wie trockne und gereizte Augen, Rötungen, eingeschränkte Sicht. Andererseits kann ich sehr froh sein, dass sich die Wassereinlagerungen auf das Gesicht beschränken, manche Betroffene bekommen die Wassereinlagerungen um die inneren Organe und gerade im Bereich der Lunge kann das schwerwiegende Komplikationen ergeben. Da schaue ich doch gerne mal aus wie ein Boxer.

Hautausschlag/Hautveränderungen
Während der Haarausfall und die Wassereinlagerungen ständig da sind, treten die Hautausschläge schubartig auf. Auch die Lokalisation ist sehr unterschiedlich, meistens aber an den Armen oder Beinen. Im letzten Winter hatte ich fast jeden Tag Ausschläge an den Beinen, die gebrannt und gesifft haben. Nach 2-3 Tagen sind sie von selber wieder verschwunden. 
Wir sind im letzten Jahr nach New York geflogen und beim Umstieg in Amsterdam wurden wir auf Sprengstoff getestet (das wird stichprobenartig gemacht), dabei wird mit einem in Flüssigkeit getränkten Tuch über die Hände und das Gepäck gegangen und nach Sprengstoffrückständen gesucht. Der Test war natürlich negativ, aber ich hatte eine allergische Reaktion auf diese Flüssigkeit und binnen Minuten war mein Handrücken voller Ausschlag und geschwollen. Ich hatte knapp zwei Wochen damit zu tun, bis das wieder vollständig verschwunden ist. 
Das ist natürlich sehr lästig und gerade wenn es im Gesicht auftritt, fühlt man sich sehr unwohl. Aber ich habe mir ein paar Tipps von meiner Hautärztin geben lassen und bekomme das damit ganz gut in den Griff.

Erschöpfung
Ich finde, das Wort Erschöpfung hat immer so einen negativen Beigeschmack. Uffzz, ich bin erschöpft, ich muss wohl ein Mittagsschläfchen halten. Doch diese Erschöpfung ist anders. Es ist nicht nur, dass man sich schlapp und ausgelaugt fühlt, der Kopf keinen geraden Gedanken mehr fassen kann. Laute Geräusche sind auf einmal zu viel. Der Körper fängt an weh zu tun, so dass man kaum noch eine Bewegung machen kann. Jegliche Energie ist verschwunden. Ich versuche schon beim ersten Anzeichen gegenzuwirken. Mit allem, was mir gut tut. Ein Aroma-Bad (Arnika oder Melissa ist toll), ausruhen, genügend schlafen. Und präventiv habe ich mit Meditation, autogenem Training und QiGong angefangen, das hilft zu entspannen und achtsam zu werden, so dass man schon die Vorboten erkennen und das Ruder herumreißen kann.

Verdauung
An diesem Abschnitt habe ich sehr lange gesessen. Normalerweise fällt es mir leicht, meine Gedanken in verständliche Worte zu fassen, aber diese Nebenwirkung hat mich wirklich sehr getroffen und mein Leben (teilweise sehr stark) eingeschränkt. Das Thema Verdauung ist irgendwie ein Tabu-Thema und mit viel Schamgefühl behaftet. Aber ich möchte hier die Realität abbilden und da gehört auch dieses Kapitel hinzu.
Jeder, der sich schonmal den Magen verdorben hat, weiß was es bedeutet, wenn man SOFORT auf Toilette muss. Wenn man nichts tun kann, außer sich schnellstmöglich auf das "stille Örtchen" zu begeben. Gerade in den ersten Monaten der medikamentösen Chemotherapie hatte ich sehr damit zu kämpfen, musste sogar Verabredungen absagen, weil ich einfach nicht von zu Hause weggekommen bin. Das geht ja noch, wenn man gerade zu Hause ist, aber was passiert, wenn man erstmal unterwegs ist? Wenn die Bahn stehen bleibt oder man im Stau festhängt (es gab zumindest mal die Situation, dass ich überlegt habe über die Leitplanke zu springen und hinter dem nächsten Busch zu verschwinden, aber der Standstreifen und die nächste Ausfahrt haben das doch noch rechtzeitig geregelt ;-)). 
Nach einigen dieser Ohhh-Ohhhh-Das-wird-knapp-Momenten wie im Kino sitzen und plötzlich aufspringen und losrennen zu müssen oder auch im Musical, beim Spazieren gehen mit Freunden, beim Ausflug mit dem Auto an die Küste, selbst das normale einkaufen im Supermarkt, plötzlich wurde alles zu einer großen Herausforderung und so habe ich aufgehört, mich in solche Situationen zu begeben. Ich habe mich nicht mehr verabredet, bin mit dem Bus statt der Bahn gefahren. Ich wusste immer, wo die nächste Toilette ist und habe mich nur noch an vertraute Orte begeben. Das war eine sehr traurige Zeit, denn das ist nicht nur sehr anstrengend, es stiehlt einem auch so viel Lebensfreude. Mittlerweile waren die Situationen, in denen der Darm verrückt gespielt hat, sogar seltener geworden, aber die Angst hat mich begleitet und Angst verursacht Bauchschmerzen und Bauschmerzen verursachen... Natürlich. Stuhldrang. Ein blöder Kreislauf. Da musste ich irgendwie rauskommen. Als erstes bin ich in eine Drogerie gegangen und habe (jaaa, mit riesigem Schamgefühl) Windeln für Erwachsene gekauft. Der Verkäuferin was von einer dementen Oma erzählt und ab damit. Zuhause habe ich dann einen Beutel gepackt: Windel, Schlüppi, Leggings. So hätte ich im Notfall zumindest Wechselklamotten dabei gehabt. Übrigens, gebraucht habe ich das glücklicherweise nie. Aber es hat mir Sicherheit gegeben. Es mag sein, dass sich das mittlerweile sogar ganz lustig anhört, aber damals war ich wirklich sehr verzweifelt. Wenn man nicht nur versucht, eine Krebsdiagnose zu verarbeiten sondern zusätzlich auch noch so eingeschränkt wird, dass man kaum noch etwas unternehmen kann, weil man ständig Angst hat, dass der Darm "explodiert". Das ist halt echt nicht schön. Nun gut, ich hatte also mein "Survival-Package" und habe mich gezwungen, wieder mehr zu unternehmen. Oftmals hatte ich so gar keine Probleme, wenn ich alleine unterwegs war. Aber umgeben von anderen, selbst von guten Freunden, war es oft sehr schwierig. Das Schamgefühl, die Angst, dass doch wieder etwas passieren könnte, nahm oft die Oberhand. Und so konnte ich viele Verabredungen nicht genießen, sondern war froh, wenn ich wieder Zuhause war. Aber mit jedem Treffen, jedem Ausflug, jedem "Draussen-sein" ist es ein Stück besser geworden. Ich kann auch gar nicht genau sagen, warum diese Nebenwirkung für mich so schlimm ist, ich habe mit anderen Betroffenen gesprochen und die gehen ganz easy damit um. Es ist ja nun auch nicht meine Schuld, so eine Krankheit und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu haben und eigentlich ist die Verdauung etwas ganz natürliches. Mittlerweile läuft es besser damit, ich habe versucht, die Beschwerden über Ernährung etwas einzudämmen und zur Not habe ich immer Immodium akut in der Tasche :-D Ich merke allerdings immer noch, dass ich vor manchen Situationen (wie ein Wanderausflug, eine Radtour, etc) nervös werde, ich denke, das gehört nun dazu und ich muss lernen, damit umzugehen. Wichtig ist, dass man trotzdem die Sachen unternimmt, die einem Spaß machen und sich nicht zu Hause verkriecht. Das Leben ist wirklich zu kurz, um zu Hause zu sitzen.

Sonstiges/Fazit
Es gibt noch ein paar weitere Nebenwirkungen, zum Beispiel Muskelkrämpfe (manchmal sogar mitten in der Nacht, durch die Schmerzen aus dem Schlaf gerissen), Übelkeit (vorwiegend direkt nach der Einnahme der Tablette), Kopfschmerzen, Veränderung der Blutwerte (niedrigere Leukozytenwerte), Geschmacksveränderungen (neuerdings mag ich Nutella, das war mir eigentlich immer zu süß; Petersilie und Koriander mag ich weiterhin nicht), blaue Flecken (ja, ohne sich gestoßen zu haben, die tauchen einfach so auf), dauerhafter Schnupfen, Tremor (das ist ein Zittern in den Händen, habe ich meist an der rechten Hand und dann fällt mir oft der Stift aus der Hand beim Schreiben und man kommt sich sehr deppern vor), Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Gewichtszunahme (GRMPF)... 
Ich weiß, dass das eine sehr lange Liste ist und ich muss gestehen, dass ich gerade im ersten Jahr der Einnahme sehr damit zu kämpfen hatte. Aber da war mir nicht bewusst, dass dieses Medikament vielleicht mein Leben verlängern kann. Das kann man leider im Vorfeld nicht wissen und so nehme ich das Medikament nun noch mindestens ein weiteres Jahr. Sollten dann Metastasen auftreten, werde ich das Medikament (oder ein ähnlich wirkendes) dauerhaft nehmen müssen, also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit den Nebenwirkungen anzufreunden. Mittlerweile ist das wirklich okay, mit den meisten Symptomen habe ich gelernt umzugehen, so dass sie mich nicht mehr aus der Bahn werfen. Ich bin allgemein ruhiger geworden und nehme mir Zeit für mich und zur Entspannung. Ich versuche gerade die Beschwerdefreien Tage möglichst gut zu nutzen und ich bin nicht mehr traurig, wenn ein Schub von Nebenwirkungen meine Pläne durchkreuzt. Das gehört nun zu meinem Leben und ich bin einfach nur dankbar, dass zum Einen mein Tumor rechtzeitig entdeckt worden ist bevor er sich verbreiten konnte und zum Anderen dass es dieses Medikament überhaupt gibt, denn ansonsten hätte ich jetzt wahrscheinlich ganz andere Sorgen. Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheinen die Nebenwirkungen schon gar nicht mehr so schlimm. <3


Ich wünsche Euch noch einen ganz wunderbaren Tag. 
Passt auf Euch auf und bleibt gesund. <3
Herzliche Grüße aus der Hansestadt.
Jennie.














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