Jennie erzähl doch mal. Leben wird aus Mut gemacht.

 Moin Ihr Lieben,

morgen ist es soweit, ich habe meinen ersten Termin bei einer Psychoonkologin. Eine Psychologin, die auf Krebspatienten spezialisiert ist. Der Krebs mag sich im Körper befinden, aber man darf nicht außer Acht lassen, was er mit der Seele anstellt. Seit Tagen schwirren Gedanken in meinem Kopf, über was ich alles reden möchte. Ich bin so aufgeregt. Endlich mal mit jemandem reden können, der nicht persönlich damit verbunden ist. Also jemand, mit dem man wirklich über alles sprechen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man eine Belastung wird, dass jemand sich Sorgen macht oder man vielleicht verurteilt wird. Mit Familie und Freunden zu sprechen ist irgendwie anders. Man möchte nicht, dass die Menschen, die man liebt, sich Sorgen machen. Man möchte kein Mitleid. Man möchte sie nicht belasten. Also richtet man den Kopf hoch, die Schultern nach hinten, lächelt und sagt, dass alles gut sei. Dass man ein Kämpfer ist und zurecht kommt. Während man innerlich das Gefühl hat zu zerbrechen. Und manchmal weiß man ja selber nicht, was los ist, weil man mit der Diagnose überfordert ist. Man merkt einfach nur, dass etwas nicht stimmt. Man hat das Gefühl sich selber verloren zu haben. Plötzlich fallen mir die einfachsten Alltagssituationen schwer und Dinge, die mir früher Freude bereitet und Kraft gegeben haben, sind mit einer unvorstellbaren Anstrengung verbunden. Es treten Ängste auf, die so unbegründet sind, dass ich manchmal selber vor der Sinnlosigkeit anfangen muss zu lachen. Als Beispiel, wenn ich jetzt nur Angst hätte, dass der Krebs wiederkommt, okay, das ist ja verständlich. Aber wenn ich Nüsse esse und plötzlich denke, oh, hoffentlich habe ich keine Nussallergie entwickelt und ersticke daran und mein Herz fängt an zu rasen und mir wird schlecht, dann ist das absolut unbegründet und sehr lächerlich. 

Ich erkenne mich selber nicht mehr wieder, als hätte ich meine Identität, einen Teil meiner Persönlichkeit verloren. Und ich vermisse den Menschen, der ich früher war, sehr doll. Ich habe es so geliebt, Tanzen zu gehen, Cocktails trinken, Freunde treffen, ins Stadion zu gehen, unter Menschen zu sein. Natürlich ist das momentan corona-bedingt eh etwas schwierig. Aber bei mir hat das leider schon vor der Pandemie angefangen und die momentane Situation hat das nur verstärkt. Die Krebsdiagnose hat mich bis ins Mark erschüttert und alles durcheinander gewirbelt. Man geht immer mit so einem Grundvertrauen durch das Leben. Man hört hier und da von schlimmen Diagnosen und Schicksalen, man sieht die schrecklichen Bilder im TV von Krieg und Umweltkatastrophen und Unfällen. Aber man bezieht das ja nicht auf sich (wäre ja auch schlimm, sonst würden alle Menschen nur noch deprimiert herumlaufen), man hat so etwas wie einen natürlichen Schutzschild der sagt, dass mir das nicht passieren kann. Und plötzlich ist diese Diagnose da und das ganze Grundvertrauen ist erschüttert, hat Risse bekommen und lässt sich nicht wieder ganz aufbauen. Plötzlich sieht man so viele Gefahren und spürt, dass man selber nicht davor geschützt ist. Man muss sich mit der Thematik Krankheit und Tod auseinander setzen. Dabei möchte man das doch am liebsten ganz weit wegschieben, aus dem Leben verbannen. 

Es hat einige Zeit gedauert, bis ich gemerkt habe, dass etwas nicht in Ordnung ist mit mir. Dass ich mich verkrieche und sehr aus dem Leben zurück ziehe. Ich habe das anfänglich als ganz normal betrachtet, ich mache ja nun die medikamentöse Chemotherapie und habe mit vielen Nebenwirkungen zu kämpfen. Da ist es doch ganz normal, dass man sich ausruhen muss und nicht mehr so viel unternimmt. Das war für mich eine ganz klare Sache. Ich habe mich kaum noch verabredet und wenn doch, habe ich die Treffen oft gecancelt, weil ich zu erschöpft war. Und gleichzeitig habe ich meine Herzensmenschen so sehr vermisst. Im Sommer war ich dann doch verabredet und habe mich auf den Weg gemacht, bin in die Bahn gestiegen und habe nach einigen Stationen Herzrasen bekommen, mir wurde total übel, ich hatte Schweißausbrüche, so dass ich aus der Bahn aussteigen musste, obwohl noch ein paar Stationen vor mir lagen. Das fand ich zwar seltsam, habe es aber mit der muffigen Luft in der Bahn und dem Maske tragen in Verbindung gebracht. Nach und nach sind mir alltägliche Unternehmungen wirklich schwer gefallen. Termine wahrnehmen, einkaufen gehen, Arztbesuche. Es ist für mich wirklich sehr schwer verständlich, was da passiert ist und wie sich das entwickeln konnte. Aber an einem Tag hat es in meinem Kopf klick gemacht und ich wusste, ich muss mir Hilfe holen. Ich habe bislang keinen Kontakt zu Psychoonkologen gehabt, normalerweise ist das Standard, dass man eine Beratung bekommt, wenn man im Krankenhaus eine Krebsdiagnose erhält. Allerdings bin ich vor der Diagnose entlassen worden (die histologischen Befunde waren noch nicht da) und habe diese dann telefonisch mitgeteilt bekommen. Ich glaube, dass mir eine Beratung direkt nach der Diagnose sehr gut getan hätte und es dann gar nicht so intensiv gekommen wäre, wie es jetzt ist. Aber ich kann das natürlich nicht ändern. Ich kann nur jetzt den Weg begehen und mir mein Leben zurückholen.  Ich habe wirklich lange Zeit geglaubt, dass ich die Diagnose einfach so wegstecken kann. Aber eigentlich war es mir im Unterbewusstsein schon klar, dass da mehr hinter steckt.

Immer wenn jemand zu mir sagt: Wooow, das ist sooo stark wie Du mit der Diagnose umgehst, denke ich: Leuuuteee. Ich. Habe. Keine. Wahl. Wenn Du ins kalte Wasser geworfen wirst, bleibt dir nur eines: Schwimmen. Und schwimmen. Und weiterschwimmen. Und wenn Du den ersten Schock überwunden hast, fängst Du an zu überlegen, ob Du einfach nur weiterschwimmen möchtest. Oder möchtest Du Dich zum Ufer durchkämpfen, was wahrscheinlich ein harter Weg ist, aber dort wartet das Leben auf Dich. Ich bin nun eine ganze Weile geschwommen, aber nun heißt es endlich ab ans Ufer, es reicht mit dem treiben lassen. Ich habe bereits mit einigen kleinen Schritten angefangen, kurze Verabredungen, Bahn fahren, etc und das hat sehr gut geklappt. Natürlich ist das jedes Mal mit Anstrengungen verbunden und ich habe arg zu kämpfen und bin extrem nervös. Aber das wird schon. Ich freue mich fast darüber, dass ich die Problematik erkannt habe und nun daran arbeiten kann. Und ich bin mir sicher, dass ich es schaffen werde, das Leben zurückzubekommen.  

Leben wird aus Mut gemacht.

Herzliche Grüße aus der Hansestadt.
Jennie







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